Auf dieser Seite finden Sie Videobeiträge in Gebärdensprache und die entsprechenden Texte zum Thema:
Zu diesem Thema gibt es insgesamt 3 Module - eine Übersicht finden Sie hier:
Modul 1:
Die Kultur der Gehörlosen - eine sprachliche Minderheit
1.1. Einführung
1.2. Die Kultur der Gehörlosen
1.2.1. Die gemeinsame Sprache - die Gebärdensprache
1.2.2. Einen gemeinsamen Ort der Begegnung
1.2.3. Die Schulzeit
1.2.4. Gehörlose Eltern
1.3. Identität
Modul 2
Die Geschichte der Gehörlosen und Besonderheiten der Gebärdensprache
2.1. Einführung und Geschichte
2.2. Besonderheiten der Gebärdensprache
Modul 3
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Gehörlosen und Hörenden
3.1. Unterschiede zwischen Gehörlosen und Hörenden
3.1.1. Äußere Merkmale:
3.1.2. Typische Eigenschaften:
3.2. Gemeinsamkeiten zwischen Gehörlosen und Hörenden
Modul 1
Die Kultur der Gehörlosen - eine sprachliche Minderheit
1.1. Einführung
Gibt es wirklich eine „Gehörlosenkultur“? Gibt es tatsächlich Unterschiede zwischen gehörlosen und hörenden Menschen, obwohl sie alle in ein und demselben Land leben?
Auf jeden Fall! Über die Kultur der Gehörlosen gibt es zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und Veröffentlichungen im In- und Ausland. Je nachdem, wie Gehörlosigkeit bewertet wird, wird sie als Behinderung oder als Bereicherung in Form einer eigenen Kultur betrachtet und erlebt. Gehörlosigkeit ist daher als Abgrenzung zwischen zwei „Welten“ zu sehen: Die der Gehörlosen und die der mehrheitlich Hörenden. Die unterschiedliche Sinneswahrnehmung bzw. das fehlende oder stark eingeschränkte Hörvermögen bedingt unterschiedliche Interaktions- und Kommunikationsmuster. Durch die starke Eingebundenheit in einer eigenen kulturellen Gemeinschaft, grenzen sich Gehörlose durch eigene Bedürfnisse, Lebensumstände und ihre Gebärdensprache von der Kultur der Hörenden ab.
Durch verschiedene Erfahrungen und Einflüsse entwickeln sich Gruppen/Gemeinschaften unterschiedlich - nicht nur Gehörlose, sondern auch andere Gruppen z.B. aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Sprache und Traditionen. So haben z.B. Gehörlose in Deutschland - im Vergleich zu Hörenden - eine andere Geschichte und andere Erfahrungen aufgrund ihrer Gehörlosigkeit erlebt. Sie entwickelten eine andere Sprache, eine andere Wahrnehmung und damit auch ein anderes Verhalten sowie eigene Kunstformen (Gebärdensprachpoesie, Theater, etc.).
Die eigene Kultur zu beschreiben und zu erklären ist manchmal schwierig. Wächst man in einem bestimmten Kulturkreis auf, kennt man die Normen und Verhaltensregeln von klein auf. Sie müssen gar nicht immer erklärt werden, sie sind selbstverständlich. Sie werden intuitiv erfasst und jeder weiß, was ein „normales“ oder übliches Verhalten ist. Verhält sich jemand anders, kann dies einen „Regelverstoß“ bedeuten, derjenige fällt auf.
Ein intensiver Austausch über beide Kulturen - die Kultur der Gehörlosen und die Kultur der Hörenden -, trägt dazu bei, die Sichtweise auf die jeweils andere Kultur zu verändern. Meistens kennen sich die jeweiligen Kulturen nicht oder nicht gut genug. Durch Aufklärung und Aufzeigen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten könnten Vorurteile abgebaut werden und der jeweils anderen Kultur mehr Verständnis und Akzeptanz entgegengebracht werden.
Eine gute Kulturkompetenz bedeutet weniger Konflikte und Missverständnisse und führt zu mehr Empathie, Wohlwollen und einem unkomplizierteren Miteinander.
1.2. Die Kultur der Gehörlosen
Sprache und Kultur sind direkt miteinander verbunden, daher ist eine Gehörlosenkultur ohne Gebärdensprache gar nicht denkbar. Die Kultur der Gehörlosen wird durch ihre Mitglieder selbst gestaltet und geprägt, indem sie anhand eines dichten Netzwerks Kontakte pflegen, sich austauschen und gegenseitig informieren. Von Kindheit an sind sie meist Teil der Gehörlosengemeinschaft und werden so auf diese Weise entsprechend sozialisiert.
Die Kultur der Gehörlosen zeichnet sich im Wesentlichen durch folgende prägende Faktoren aus:
1.2.1. Die gemeinsame Sprache, die Gebärdensprache:
Die Gebärdensprache gilt in der Gehörlosengemeinschaft als das identitätsstiftende Merkmal und verfügt, wie andere Sprachen auch, über eine eigene Grammatik und eine große stilistische
Bandbreite, von der Alltags-DGS über wissenschaftliche Abhandlungen bis hin zur Gebärdensprachpoesie.
Sie ist von Land zu Land unterschiedlich (in Deutschland die „Deutsche Gebärdensprache“ (DGS), in den USA die amerikanische Gebärdensprache „American Sign Language“ (ASL), etc.). Innerhalb der Länder gibt es verschiedene Dialekte - wie in den Lautsprachen auch. Kurzum, sie ist eine vollwertige Sprache, die in einigen Ländern inzwischen auch offiziell als Sprache anerkannt wurde.
(Mehr Informationen siehe Modul 2)
1.2.2. Einen gemeinsamen Ort der Begegnung:
Z.B. der örtliche Gehörlosenverband, verschiedene Gehörlosenvereine zu bestimmten Freizeitaktivitäten wie Skatclubs, visuelles Theater, Sportvereine etc.
Hier kann Austausch, Sport und Spaß ohne Kommunikationsbehinderung stattfinden.
Der soziale Kontakt und Zusammenhalt ist für Gehörlose sehr wichtig, auch über größere Entfernungen hinweg. Durch ihren gebärdensprachlichen Austausch
knüpfen sie innerhalb der Gehörlosengemeinschaft Beziehungen, die zu einem großen Netzwerk ausgebaut werden. Durch die heutige Technik (Handy, PC, Skype, etc.) ist dies inzwischen sehr gut
möglich. Von dieser Struktur können viele Gehörlose profitieren, denn wichtige Informationen, wie Gesetzesänderungen oder besondere Ereignisse, können so schnell verbreitet werden.
Bei eventuellen bedrohlichen Veränderungen - wie z.B. Entfernen der Dolmetscher-Einblendung in den TV-Nachrichten, Kürzungen der Dolmetscherbudgets, Schließen von Gehörlosenschulen, Abbau der
Untertitelung im TV, etc., - können Gehörlose heute schneller und effektiver Proteste oder Demonstrationen organisieren, um z.B. gegen solche Beschlüsse vorzugehen. Durch diesen intensiven
Zusammenhalt können die für die Gehörlosengemeinschaft so wichtigen kulturellen Werte verteidigt und bewahrt werden.
1.2.3. Die Schulzeit:
In Gehörlosenschulen oder Internaten lernen gehörlose Kinder und Jugendliche von einander, indem sie im täglichen Miteinander Gebärdensprachkenntnisse erwerben oder vertiefen (die meisten gehörlosen Kinder haben hörende Familien!). Dort entwickeln sie auch ein kulturelles Bewusstsein, was für die eigene Identität als gehörlose Person und ein damit verknüpftes Selbstvertrauen wichtig ist. Kinder, die sich schon früh mit der Gehörlosenkultur identifiziert haben oder sich mit ihr identifizieren konnten, dienen hierbei oftmals als sprachliche und kulturelle Vorbilder.
Daher ist die gemeinsam erlebte Schulzeit für viele Gehörlose bis ins hohe Erwachsenenalter ein verbindendes Element oder ein erster Anknüpfungspunkt in
einem Gespräch mit einem unbekannten Gesprächspartner (auf welcher Schule warst du?).
1.2.4. Gehörlose Eltern:
Ein wichtiger Baustein für die Gehörlosenkultur sind auch die gehörlosen Eltern, da sie die Traditionen der Gehörlosengemeinschaft an die nächste Generation weiter gegeben. So bleiben Wertvorstellungen und Bräuche der Gehörlosen erhalten (eigener Humor, Namensgebärden, vor dem Essen zweimal auf den Tisch klopfen, für Beifall mit den Händen wedeln, lange Verabschiedungen,…) sowie bestimmte Verhaltensregeln (Blickkontakt, Zeigen mit dem Zeigefinger, Tippen auf die Schulter, gute Lichtverhältnisse,…).
1.3. Identität
Wer sich positiv mit der Gehörlosenkultur und als gehörlose Person identifizieren kann, entwickelt auch ein positives Selbstbild: Ich bin gehörlos oder ich bin taub! Gehörlose empfinden sich dann als gleichberechtigte und selbstbewusste Persönlichkeit, die lediglich in Gebärdensprache kommuniziert. Gehörlosigkeit wird nicht als Krankheit im klassischen Sinne oder Mangel wahrgenommen, sondern ist Ausdruck einer sprachlichen und kulturellen Minderheit. Durch ein positives Selbstbild können eventuelle alltäglichen Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme mit Hörenden, im privaten Bereich, während der Ausbildung oder im Arbeitsleben besser bewältigt und angenommen werden.
Manche Gehörlose erleben Gehörlosigkeit aber auch als Mangel oder tatsächlich als Behinderung. Manche versuchen ihre Hörbehinderung auch zu verstecken, was zunächst gut möglich ist, da sie ja äußerlich nicht sichtbar ist wie z.B. bei einem Rollstuhlfahrer. Erst im Kontakt mit Hörenden wird eine Hörbehinderung auf irgendeine Art und Weise auffällig (beim Ansprechen auf der Straße, Besuch von Institutionen und Behörden, Schriftverkehr,..). Die Unterscheidung von manchen Gehörlosen, wer eher lautsprachlich (hörend) oder gebärdensprachlich (taub) orientiert ist, kann auch innerhalb der Gebärdensprachgemeinschaft zu Spannungen und mangelnder Akzeptanz führen.
Modul 2 - Teil 1
Die Geschichte der Gehörlosen und Besonderheiten der Gebärdensprache
2.1. Einführung und Geschichte
Ein wichtiges und identitätsstiftendes Merkmal der Gehörlosenkultur ist die Gebärdensprache. Die meisten Hörenden wissen nicht viel über diese Sprache - noch nicht einmal, dass es überhaupt eine richtige Sprache ist. Auch Gehörlose konnten sich lange Zeit selbst nicht vorstellen, dass sie eine Sprache verwenden, die vergleichbare grammatikalische Strukturen mit Lautsprachen hat. Lange Zeit wurde die Gebärdensprache unterdrückt und damit auch die Menschen, die diese Sprache verwendet haben. Das Gebärden wirkte auf Hörende oft wie wildes Gestikulieren, vergleichbar mit Pantomimen und wurde sogar als „Affensprache“ bezeichnet.
Das Denken stand früher in direktem Zusammenhang mit der Sprache, der Lautsprache (nur wer sprechen kann, kann auch denken (Platon)…). Daher wurden Gehörlose oft für dumm gehalten (Begriff taubstumm = heute diskriminierend). Sie gehörten meistens zur untersten sozialen Schicht oder waren sogar rechtlos.
Da Gehörlosigkeit aber auch in reichen oder adeligen Familien vorkam, gab es ein Problem: Denn Gehörlose waren in früheren Zeiten nicht erbberechtigt, wenn sie nicht sprechen konnten. Es wurde also nach Lösungen gesucht, wie man diesen gehörlosen Familienmitgliedern das Sprechen beibringen könnte, damit bewiesen war, dass sie denkende Menschen sind und damit auch erbberechtigt.
Auch die Kirche war daran interessiert, sich um das Seelenheil der Gehörlosen zu kümmern. Sie suchte nach Wegen, wie sie den Glauben auch ohne gesprochene Worte verbreiten könnte.
So war es für die damalige Zeit durchaus üblich, dass gehörlose Kinder, meist aus wohlhabenden oder adeligen Familien, in Klöstern unterrichtet wurden. Erste Berichte stammen aus Spanien (16. Jh.), z.B. von einem hörenden Mönch namens Pedro Ponce de León (1516-1584). Er unterrichtete Gehörlose mit Erfolg in Lautsprache und anderen Fächern und verwendete dabei auch Einzelgebärden und eine Art Fingeralphabet. Damit lieferte Ponce de León schon früh den Beweis, dass auch Gehörlose lesen, schreiben, denken und sprechen können und damit bildungsfähig sind.
Diesen Beweis lieferte z.B. auch der Gehörlose Étienne de Fay (1669-1746) in Frankreich. Er war nicht nur Mönch, sondern auch Lehrer für Gehörlose und Architekt. Berühmt wurde er durch den Auftrag, Pläne für den Wiederaufbau der Abtei von Saint-Jean d’Amiens zu entwerfen. Diese konnten allerdings erst nach dem 2. Weltkrieg tatsächlich verwirklicht werden.
Als Lehrer verwendete er jedoch, ebenfalls mit Erfolg, die Gebärdensprache und die Schriftsprache.
Die 1. Gehörlosenschule der Welt wurde in Paris/Frankreich gegründet und zwar im Jahre 1760 von dem hörenden Mönch Charles de l’Épée (1712-1789), der die Gebärdensprache von den Gehörlosen erlernt hatte. In seinem Unterricht verwendete er Gebärdensprache und Schriftsprache und entwickelte die sogenannten „methodischen Gebärden“ (ähnlich wie LBG), die ein Kompromiss zwischen der Gebärdensprache und der Lautsprache waren. Er vertrat hiermit für den Unterricht von Gehörlosen die „Gebärdensprachmethode“.
Der Mönch de l’Épée hatte zu seiner Zeit einen bedeutsamen Gegenspieler: den hörenden Deutschen Samuel Heinicke (1727-1790). Heinicke leitete ab 1778 die 1. deutsche Gehörlosenschule in Leipzig und vertrat die Ansicht, dass Gehörlose in Lautsprache unterrichtet werden sollten, die sogenannte „Lautsprachmethode“. Er verwendete zwar auch Gebärden in seinem Unterricht, jedoch nur als Hilfsmittel und nicht als Unterrichtsmethode.
Beide Methoden, lautsprachlicher und gebärdensprachlicher Unterricht, existierten lange Zeit nebeneinander, auch in verschiedenen Mischformen.
Mit den ersten Schulgründungen in Frankreich, England, Deutschland und anderen Ländern begann auch die Bildung der Gehörlosen, wodurch sich auch Gehörlosengemeinschaften entwickeln konnten. Gehörlose Kinder und Erwachsene kamen, meist von weit her, in Gehörlosenschulen und Internaten zusammen. Dort fühlten sie sich mehr beheimatet, als mit den Hörenden aus ihren ursprünglichen Wohnorten. Diese Verbundenheit und der besondere gemeinschaftliche Charakter führten an verschiedenen Orten zu Gehörlosengemeinschaften, die - im Vergleich zu Hörenden - andere Erfahrungen, Probleme, Wünsche und Hoffnungen miteinander teilten. So entstand 1838 in Paris schließlich der 1. Gehörlosenverein der Welt.
Die 1. amerikanische Gehörlosenschule „Gallaudet“ wurde 1817 gegründet. Aus ihr ging später die „Gallaudet University“ in Washington D.C. hervor. Sie ist noch heute weltweit die einzige Universität speziell für Gehörlose.
Während in den USA für die Bildung und Erziehung Gehörloser überwiegend die Gebärdensprache verwendet wurde und dadurch ein weitaus höheres Bildungsniveau erzielt werden konnte, verwendete man in Europa überwiegend die Lautsprachmethode. D.h. eine orale Erziehung, in der der Schwerpunkt auf den Erwerb der Lautsprache gelegt wurde, z.B. durch Artikulationsunterricht. Bildung wurde auf das Sprechenlernen reduziert und es ging kaum um Inhalte und Wissensvermittlung, was sich auch deutlich im Bildungsniveau Gehörloser bemerkbar machte.
Eine dramatische Wende für die Unterrichtung Gehörloser erfolgte im Jahre 1880 durch den internationalen Mailänder Kongress. Zu diesem Kongress wurden überwiegend hörende und lautsprachlich orientierte Gehörlosenlehrer aus verschiedenen Ländern eingeladen. Hier fiel die Entscheidung, die „orale Methode“ als die einzig richtige an allen Gehörlosenschulen einzuführen. Dies hatte zur Folge, dass gehörlose Lehrer aus dem Schulunterricht entlassen wurden und dass die Gebärdensprache an Schulen, selbst in den Pausen, verboten wurde. Kinder die dennoch gebärdeten wurden streng bestraft.
Ein fataler Fehler, wie sich anhand dieses Beschlusses im Verlauf der Geschichte herausstellen sollte.
In Deutschland galten Gehörlose zur Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945) als „lebensunwert“ und als „Erbkranke“, zum Teil wurden sie als „Schwachsinnige“ eingestuft. Gehörlose sollten von Schulen und Familien den Behörden gemeldet werden, wodurch sie größtenteils der Zwangssterilisation zugeführt wurden und/oder im Rahmen der „Euthanasie-Programme“ umgebracht wurden.
Nach dem 2. Weltkrieg herrschte in den deutschen Gehörlosenschulen noch immer die orale Erziehungsmethode vor, weshalb die Kinder dem Unterricht kaum folgen konnten. Die damaligen Lehrer konzentrierten sich hauptsächlich auf den Lautspracherwerb, weniger auf Lerninhalte und Wissensvermittlung. Dies hatte zu Folge, dass auch heute noch, gerade bei älteren Gehörlosen, das Bildungsniveau und die Schriftsprachkompetenz äußerst niedrig sind. Es gab daher nur wenige Berufe, die sie erlernen konnten, wodurch ihr sozialer Status in der Regel niedrig blieb.
So spielte sich das eigentliche Leben für Gehörlose hauptsächlich in den Gehörlosenvereinen ab. Eine Gemeinschaft unter Gleichen, in der die eigenen Werte und Bräuche, eine gemeinsame Geschichte und Erlebnisse und selbstverständlich ihre Sprache, die Gebärdensprache, geteilt und gelebt werden konnten.
Selbst heute noch finden sich einige ausschließlich lautsprachlich orientierte Gehörlosenlehrer und Mediziner. Sie glauben nach wie vor, dass für Gehörlose nur mit dem Erwerb der Lautsprache die bestmögliche Integration in die hörende Mehrheitsgesellschaft möglich sei und dass die Gebärdensprache den Lautspracherwerb behindere.
Die Wissenschaft belegt es jedoch anders: Das wichtigste für jeden Menschen sei, überhaupt eine Sprache zu haben, egal ob sie visuell oder lautsprachlich ist. Optimal für gehörlose Kinder wäre eine bilinguale Erziehung und ein bilingualer Schulunterricht, d.h. in Gebärdensprache und in Lautsprache/Schriftsprache, sodass für die Zukunft der Zugang zu beiden Sprachgemeinschaften offen bleibt. So können gehörlose Kinder selbst entscheiden, mit wem sie wie kommunizieren und haben später bessere Möglichkeiten, beide „Welten“ und Kulturen kennen zu lernen.
Heute findet die Gebärdensprache unter Hörenden mehr und mehr Anerkennung und eine Begeisterung für diese Sprache, die so anders ist als die Lautsprachen. Es gibt inzwischen neue Berufe (z.B. Gebärdensprachdolmetscher, Kommunikationshelfer) und z.B. an der Universität Hamburg ein Institut, dass sich wissenschaftlich intensiv mit der Erforschung von Gebärdensprachen und der Kommunikation Gehörloser beschäftigt. Auch digitale Lexika - z.B. zu bestimmten Fachthemen - wurden und werden dort immer noch erstellt. Die Erforschung der Gebärdensprache hat im Wesentlichen zur Anerkennung von Gebärdensprachen beigetragen und den Beweis geliefert, dass es sich hierbei um eine vollwertige und den Lautsprachen ebenbürtige Sprache handelt.
Auch in rechtlicher Hinsicht hat sich z.B. in Deutschland und in anderen Ländern einiges getan, wenn auch noch nicht genug: Mit der Anerkennung von Gehörlosigkeit als Behinderung haben Betroffene in Deutschland bestimmte Ansprüche, um diese Behinderung auszugleichen, z.B. Anspruch auf einen Gebärdensprachdolmetscher bei Arztterminen, bei Gericht, für Elternabende in der Schule oder im Kindergarten, bei Polizei und Behörden, etc. Für den privaten Bereich müssen die Kosten für einen Gebärdensprachdolmetscher immer noch selbst bezahlt werden. Dies ist für viele Gehörlose häufig nicht möglich, da die Kosten sehr hoch sind, um sich beispielsweise das Beratungsgespräch bei einer Versicherung oder Bank dolmetschen zu lassen.
Auch für technische Notwendigkeiten wie spezielle Signalanlagen für Türklingeln, Wecker oder Rauchmelder, werden die Kosten übernommen. Am Arbeitsplatz steht gehörlosen bzw. schwerhörigen Menschen ebenfalls Unterstützung in Form von technischen Hilfsmitteln oder einer Arbeitsassistenz / eines Dolmetschers zur Verfügung.
Modul 2 - Teil 2
Die Geschichte der Gehörlosen und Besonderheiten der Gebärdensprache
2.2. Besonderheiten der Gebärdensprache:
Die Gebärdensprache ist keine „Zeichensprache“. Bei den Handbewegungen handelt es sich nicht um starre Zeichen, die einfach aneinandergereiht werden. Eine Sprache ist immer lebendig, flexibel und dynamisch, so auch die Gebärdensprache. D.h. auch komplizierte Abläufe, abstrakte Zusammenhänge etc. können mit ihr dargestellt werden, weil sie ein Grundgerüst hat, nämlich Sprachregeln und eine Grammatik, wie andere Sprachen auch.
Wichtig ist hierbei den Unterschied zu Lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG) zu beachten. LBG folgt den Regeln der deutschen Lautsprache (oder auch anderen Lautsprachen) und ist daher eine „visualisierte Darstellung“ der deutschen Lautsprache, eine Kommunikationsform aber keine eigene Sprache!
Zu den Sprachinstrumenten der Gebärdensprache gehören die Hände (inklusive der Arme), das Gesicht (Mund, Augen, Augenbrauen) und der Oberkörper.
Sprachinstrumente der Gebärdensprache - Beispiele beziehen sich zum Teil auf die deutsche Sprache
Mimik
Mundbild /
Mundgestik
Absehen
Gebärdenraum
Gebärden
Parameter/Elemente einer Gebärde
Fingeralphabet
Neue Gebärden
Schriftsprache
Die Gesichtsmimik ist nicht nur ein emotionaler Ausdruck wie bei Hörenden auch, sondern auch ein Bestandteil der Grammatik (z.B. ob Frage oder Aussage, als Adjektiv z.B. die Art und Weise, wie einem etwas gefällt - gut oder schlecht).
Bei ähnlichen oder gleichen Gebärden ist das begleitende Mundbild wichtig. Hierdurch kann man leichter unterscheiden, ob es sich z.B. um „denken“ oder „wissen“ handelt, um „Nichte“ oder „Tante“ (in DGS die gleichen Gebärden).
Zu erwähnen ist auch die Mundgestik, die für bestimmte „Spezialgebärden“ (Idiome) eingesetzt wird. Die Gebärde wird nicht von einem Mundbild begleitet, sondern von einer Mundgestik wie z.B. „PFF“ bei „plötzlich“ oder „LAFF“ bei „keine Lust“…
Die Annahme, dass Gehörlose gut von den Lippen lesen können, wird von Hörenden zum Teil sehr überschätzt. Sicherlich können Gehörlose dies weitaus besser als Hörende, sie sind viel mehr darauf angewiesen und daher besser trainiert. Das Absehen erfordert allerdings gute Lautsprachkenntnisse, eine hohe Konzentration und eine gute Kombinationsgabe. Denn einige Wörter sind bezüglich des Mundbildes gleich oder sehr ähnlich. Die Fragen, „Wo ist die Butter“ und „Wo ist die Mutter“ sind vom Mundbild her identisch und können nur im Kontext erschlossen werden. Je nach Länge des Gesprächs kann dies für Gehörlose sehr ermüdend und anstrengend sein.
Der Gebärdenraum ist der Raum vor dem Körper, in dem gebärdet wird. Er ist quasi wie eine „Sprachbühne“, in der das Erzählte platziert wird. Um sich auf bestimmte Personen, Gegenstände oder Sachverhalte beziehen zu können, werden diese im Raum „verortet“. So wird bildlich klar, wer was mit wem macht.
Es ist auch nicht egal, wo die Hände im Raum gebärden. Es gibt bestimmte Regeln, an welcher Stelle und in welche Richtung eine Gebärde ausgeführt wird. Es gibt sogar eine spezielle grammatische Form, die sogenannten „Richtungsgebärden“. Das sind z.B. Verben wie schenken, leihen, besuchen, fragen etc. die durch die Richtung, in der sie gebärdet werden anzeigen, ob man einer Person z.B. etwas schenkt oder von einer Person etwas geschenkt bekommt.
Eine Gebärde kann bis zu 9 Informationen enthalten und um alles 100% richtig zu verstehen, muss man alle 9 Informationen gleichzeitig erfassen können. Das macht es auch für späte GS-Lerner schwierig. Diese komplexen Gebärden sind jedoch eher die Ausnahme. Insgesamt kennt die Deutsche Gebärdensprache 30 verschiedene Handformen (6 Grundhandstellungen), verschiedene Ausführungsstellen wie z.B. am Kopf, am Arm, am Oberkörper und verschiedene Bewegungen (kreisförmig, langsam, schnell, waagerecht, senkrecht, etc.). Gebärden werden einhändig oder beidhändig ausgeführt.
Eine Gebärde setzt sich aus 4 verschiedenen Parametern zusammen:
Wichtig zu wissen ist, dass jedes dieser 4 Elemente/Parameter eine eigene Bedeutung hat und dass die Veränderung eines Parameters die Bedeutung und den Inhalt einer Gebärde verändert, z.B. „Hotel“ (3-Finger-Hand) und „Warten“ (L-Hand). Die Handform ist unterschiedlich, alles andere bleibt gleich.
Dieses Phänomen gibt es auch in Lautsprachen. Durch die Veränderung eines Buchstabens entsteht eine neue Wortbedeutung, z.B. „Maus“ und „Haus“.
Gibt es Schwierigkeiten in der Kommunikation, neue Begriffe (Technik, PC,…), Namen oder Städte die unbekannt sind, werden die Wörter mithilfe des Fingeralphabets gefingert („buchstabiert“). Die verschiedenen Länder benutzen unterschiedliche Fingeralphabete, d.h. mit unterschiedlichen Zeichen, sowohl einhändig als auch beidhändig.
Wie in anderen Sprachen auch, werden mit Fortschreiten von Technik und Wissenschaft neue Begriffe entwickelt und damit auch neue Gebärden, die regional wiederum recht unterschiedlich sein können: z.B. für FaceBook, WhatsApp, Google, etc. Auch vereinbaren Gehörlose und Dolmetscher gemeinsam bestimmte Fachgebärden, um bei Fachvorträgen oder in Seminaren an Universitäten oder Fachschulen die Kommunikation sicherstellen zu können. Es wird vereinbart, welcher Begriff mit welcher Gebärde übersetzt wird, damit beide den gleichen Inhalt dolmetschen und erfassen können.
Die Gebärdensprachen haben keine geeignete Gebrauchsschrift, d.h. es gibt keine Schriftform, die es ermöglicht, schnell und unkompliziert diese visuelle Sprache schriftlich festzuhalten. Dennoch gibt es verschiedene Schriftsysteme bzw. Symbole, die versuchen, die Komplexität der Gebärden wiederzugeben. In Hamburg wurde beispielsweise HamNoSys entwickelt - das Hamburger Notationssystem für Gebärdensprachen. Die erste Version wurde vor über 20 Jahren entwickelt, inzwischen gibt es eine vierte Version, die auch international einsetzbar ist.
Modul 3
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Gehörlosen und Hörenden
Inzwischen ist deutlich geworden, dass es tatsächlich Unterschiede zwischen gehörlosen und hörenden Menschen gibt, obwohl sie auch einen gemeinsamen kulturellen, gesellschaftlichen, geographischen und politischen Raum teilen.
Um in Kürze einen Überblick zu erhalten, werden hier einige Beispiele zusammengetragen:
3.1. Unterschiede zwischen Gehörlosen und Hörenden
3.1.1. Äußere Merkmale
Gehörlose
Körperkontakt:
Um Kontakt mit einem Gesprächspartner aufnehmen zu können, ist es zum Teil notwendig, den Gesprächspartner z.B. an Schulter oder Arm zu berühren.
Hinweise mit dem Zeigefinger, z.B. auf andere Gegenstände oder Personen sind für das Verständnis der Unterhaltung ebenfalls wichtig.
Blickkontakt:
Für das Verständnis der Kommunikation ist ein durchgehender und direkter Blickkontakt notwendig, um z.B. Mimik, Mundstellung, Mundbild und Mundgestik erkennen zu können.
Die Blickrichtung ist ebenfalls ein grammatikalischer Bestandteil der Gebärdensprache.
Den Blickkontakt zu lösen bedeutet, sich vom Gesprächspartner abzuwenden und stellt damit eine gravierende Beleidigung dar.
Geräusche:
Da Gehörlose nichts oder wenig hören, können sie nicht wissen bzw. kontrollieren, welcher Art und in welcher Lautstärke die Geräusche sind, die sie bei ihren Tätigkeiten produzieren wie z.B. Türen schließen (knallen), beim Essen (schmatzen), gehen (schlurfen), Stühle rücken, etc.
Mimik und Gestik:
Mimik und Gestik sind für die Grammatik der Gebärdensprache von entscheidender Bedeutung und weitaus stärker ausgeprägt, als bei Hörenden.
Ein „starres“ Gesicht ist nicht nur unangenehm, ihm fehlen auch wesentliche Elemente für die Grammatik der Gebärdensprache. Hierzu zählen z.B. Mundbild, Mundgestik, Augenpartie und Gesichtsmimik.
Dolmetscher:
Um mit Hörenden in Kontakt treten zu können, brauchen gehörlose oder auch schwerhörige Menschen Gebärdensprachdolmetscher, Kommunikationshelfer oder auch Schriftdolmetscher. Dies bedeutet oftmals keine spontanen Kontaktmöglichkeiten, da Dolmetscher erst bestellt und auch die Finanzierungsfragen geklärt werden müssen.
D.h. Besuche bei Banken, Versicherungen, Veranstaltungen, Informationszentren, etc. können nicht spontan unternommen werden und sind für Gehörlose im privaten Bereich fast unbezahlbar.
Dolmetschsituation:
In einem gedolmetschten Gespräch passiert es immer wieder, dass gerade Hörende, die diese Situation nicht kennen, sich mit dem Dolmetscher unterhalten anstatt mit der gehörlosen Person. Dies wird von Gehörlosen zu Recht oft als Diskriminierung / Missachtung empfunden. Gehörlose wünschen sich, dass sie Ansprechpartner bleiben, sie sind kompetent und können die Gespräche selbst führen. Sie brauchen nur eine Unterstützung für die Kommunikation und wünschen sich deshalb auch Blickkontakt mit dem hörenden Gesprächspartner und nicht mit dem Dolmetscher.
Hörende
Körperkontakt:
Um Kontakt zu einem Gesprächspartner aufnehmen zu können, genügt es ihn anzusprechen oder zu rufen.
Hinweise, insbesondere auf andere Personen, erscheinen als zu direkt und unhöflich (Schau mal, der ist aber dick…) Solche Hinweise werden unauffällig erklärt.
Blickkontakt:
Blickkontakt ist ebenfalls höflich, allerdings kann ein lang anhaltender, direkter Blickkontakt zu Missverständnissen führen. Er kann als Provokation oder einfach als unangenehm empfunden werden.
Geräusche:
Hörende bemühen sich in der Regel, laute Geräusche zu vermeiden, da sie als extrem unangenehm empfunden werden können.
Wenn eine Tür laut zugeknallt wird, ist dies eher Ausdruck von Ärger oder Wut; wenn Kinder beim Essen schmatzen, kann dies auch Ausdruck von Protest und Ignoranz sein.
Die Art und in welcher Lautstärke bestimmte Tätigkeiten verrichtet werden, kann daher Ausdruck für ein bestimmtes soziales Verhalten sein.
Mimik und Gestik:
Auch bei Hörenden gehören Mimik und Gestik begleitend zur Lautsprache dazu. Sie vervollständigen das Gespräch und verleihen ihm mehr Ausdruck. Ein „starres“ Gesicht wird ebenfalls als unangenehm empfunden. Mimik und Gestik können dabei von Land zu Land variieren.
In den südlichen Ländern wird z.B. mehr „gestikuliert“ als in nördlichen Ländern. „Gestikulieren“ ist auch eine Frage des „Temperaments“ einer Person, ist ihr Charakter z.B. eher ruhiger oder lebhafter. Auch bei Kleinstkindern, älteren Menschen oder Personen anderer Herkunft wird, begleitend zur Lautsprache, mehr Mimik und Gestik eingesetzt.
Mimik und Gestik sind für die Grammatik der Lautsprache nicht unbedingt erforderlich, sie erleichtern allerdings das Verständnis und sind oftmals persönlicher Ausdruck des Gesprächspartners.
Dolmetscher:
Hörende können sich zu jeder Zeit, ohne Hinzuziehen einer 2. Person und ohne Zusatzkosten mit anderen hörenden Menschen in Verbindung setzen und so selbstverständlich an Informationen und Beratungen gelangen, die sie benötigen.
Dolmetschsituation:
Für ungeübte Hörende ist eine Dolmetschsituation schwierig, da sie automatisch den Blick dahin wenden, wo gesprochen wird. Dies sind sie von klein auf so gewohnt. Es ist für hörende irritierend, nicht die Person anzuschauen, die spricht (Dolmetscher), sondern die gehörlose Person.
Dies erfordert leider immer wieder Geduld und Aufklärung seitens des gehörlosen Gesprächspartners.
3.1.2 Typische Eigenschaften:
Gehörlose
Umgangsformen in der Kommunikation:
Gehörlose bevorzugen eine klare und direkte Kommunikationsform, sowohl im Gespräch als auch schriftlich. Sie sagen direkt was sie meinen („Du hast aber zugenommen…“) und meinen dies NICHT verletzend oder provokativ. Klarheit hat hier mit Unhöflichkeit nichts zu tun, selbst Gebärdennamen können kleine „Makel“ enthalten, z.B. Vorname + Gebärde DICK.
Vorurteil gegenüber Hörenden:
Da Hörende sich hier anders verhalten, glauben manche Gehörlose, dass Hörende durch ihre Umschreibungen etwas zu verbergen haben - sie werden misstrauisch.
Verbreitung von Informationen:
Die Bewertung, was an Informationen weitergegeben werden darf, privat oder vertraulich ist, ist in beiden Kulturen unterschiedlich, wodurch es zu Missverständnissen kommen kann:
Gehörlose sind „Weltmeister“ in der Verbreitung von Informationen, sie geben möglichst viele Informationen an viele Gehörlose weiter. Ein Grund hierfür kann das Informationsdefizit sein. Die geringe Schriftsprachkompetenz und das Fehlen anderer Quellen wie Zeitungen, Radio, TV, etc. bedingt quasi eine „Pflicht“ zur Weiterleitung an andere. Informationen werden eher als „Allgemeingut“ verstanden.
Vorurteil gegenüber Hörenden:
Hörende sind „Geheimniskrämer“
Argumentation und Rhetorik
z. B. bei Vorträgen:
Der Aufbau eines Vortrags erfolgt in der Regel vom Speziellen zum Allgemeinen.
Er enthält viele Beschreibungen und Details, Visualisierungen und zahlreiche Beispiele, um einen Sachverhalt klar und verständlich darzulegen. Hierfür werden, neben der allgemeinen Erzählstruktur - auch für wissenschaftliche Vorträge - verschiedene spezielle grammatikalische Konstruktionen verwendet, wie z.B. die Rollenübernahme (Constructed Action).
Eine Besonderheit ist auch, dass sich der Redner rückversichert, ob das Publikum den Sachverhalt verstanden hat oder nicht. Auch die Zuschauer selbst fragen während einer Diskussionsrunde oder eines Vortrags nach, wenn etwas unklar sein sollte.
Der „Verhaltenskodex“ der Zuschauer ist unabhängig von den Rahmenbedingungen und der Art des Vortrags.
Lesekompetenz / Wissen:
Die Vorstellung darüber was Gehörlose und Hörende verstehen und über wie viel Wissen sie verfügen, ist zwischen beiden Gemeinschaften recht unterschiedlich.
Aufgrund ungeeigneter Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für Gehörlose in Kindergarten, Schule, Berufsbildung etc. und die meist oralen/lautsprachlichen Erziehungsmethoden, haben viele Gehörlose - auch heute noch - zum Teil große Schwierigkeiten Texte inhaltlich gut zu verstehen und die deutsche Grammatik richtig anzuwenden. Hier gibt es natürlich Unterschiede, was die Lese- und Schriftsprachkompetenz unter Gehörlosen angeht. Jedoch bleibt die deutsche Schriftsprache für viele eine Fremdsprache.
Vorurteil gegenüber Hörenden:
Viele Gehörlose glauben, dass Hörende alles wissen und alles verstehen, weil sie hören können und dadurch viel mehr Informationen und bessere Schulbildung erhalten. Das ist nur zum Teil richtig.
Auch unter Hörenden gibt es große Unterschiede, was die Lese- und Schriftsprachkompetenz anbelangt. Gerade in der Schriftsprache gibt es viele Texte, die auch Hörende nicht gut verstehen (z.B. Versicherungs- und Vertragsbedingungen, Briefe von Behörden, Anträge, etc.).
Hörende
Umgangsformen in der Kommunikation:
Hörende bevorzugen eher eine indirekte Kommunikationsform und verwenden hierfür typischerweise Umschreibungen und Höflichkeitsfloskeln. Hier muss zwischen den Zeilen gelesen und gehört werden. Eine direkte Kommunikationsform kann als unhöflich, peinlich oder gar als verletzend empfunden werden.
Vorurteil gegenüber Gehörlosen:
Gehörlose sind unhöflich.
Verbreitung von Informationen:
Hörende geben bestimmte Informationen nur an bestimmte Leute weiter. Der Austausch von Informationen findet eher in Kleinstgruppen statt. Durch Hörvermögen und bessere Schriftsprachkompetenz stehen ihnen zahlreiche Informationsmedien zur Verfügung, die sie selbstverständlich, nebenbei oder gezielt nutzen können.
Vorurteil gegenüber Gehörlosen:
Gehörlose sind „Tratschtanten“.
Argumentation und Rhetorik
z.B. bei Vorträgen:
Der Aufbau eines Vortrags erfolgt in umgekehrter Reihenfolge: In der Regel vom Allgemeinen zum Speziellen.
Es gibt oftmals eine genaue Struktur, viel Text und wenig Bilder und Grafiken.
Viele Redner halten Ihre Vorträge, ohne in Kontakt mit dem Publikum zu treten, besonders bei wissenschaftlichen/fachspezifischen Vorträgen, sie wirken daher oft „steif“ und langweilig, obwohl das Thema interessant ist.
Sie halten Ihre Präsentationen unabhängig davon, ob das Publikum verstanden hat oder nicht. Auch ist es nicht üblich, während eines Vortrags Fragen zu stellen, dies ist meist erst zum Ende hin oder nach Aufforderung des Redners möglich. Ein Dazwischen-Fragen wird daher als unhöflich erachtet.
Der „Verhaltenskodex“ der Zuhörer richtet sich nach den Rahmenbedingungen und der Art des Vortrags.
Lesekompetenz / Wissen:
Hörende lernen Lautsprache von klein auf, meist mühelos und intuitiv, wie selbstverständlich. Daher haben sie auch später in der Schule einen wesentlich leichteren Zugang beim Erwerb der Schriftsprache und der Grammatik. Denn die gesprochene Sprache, die dem Aufbau der Schriftsprache ähnelt, ist ihre Muttersprache und keine Fremdsprache.
Viele Informationen, die täglich wahrgenommen werden, sind akustisch. So können Hörende bewusst oder unbewusst, aber auch nebenbei viele Informationen aufnehmen, was Gehörlosen nicht möglich ist.
Durch diesen Vorteil haben Hörende einen viel einfacheren Zugang zu Wissen und Bildung und dadurch viel mehr Möglichkeiten und Chancen, sich Wissen und Bildung anzueignen und zu vertiefen. So ist es nicht verwunderlich, dass sie auch bessere Lese- und Schriftsprachkompetenzen als Gehörlose haben. Unter Hörenden gibt es jedoch sehr große Unterschiede, was das Bildungsniveau anbelangt.
Vorurteil über Gehörlose:
Viele Hörende wissen zwar, dass Gehörlosigkeit oder Schwerhörigkeit Kommunikationsprobleme mit sich bringt, sie gehen aber auch davon aus, dass Gehörlose dafür ein gutes Lese- und Schriftsprachverstehen haben. Sie wissen in der Regel nichts über die schlechten Bildungsmöglichkeiten Gehörloser und dass ihnen oftmals kein bilingualer Unterricht (Lautsprache/Schriftsprache und Gebärdensprache) zur Verfügung steht. Daher wundern sich Hörende, wenn Gehörlose nicht so gerne schreiben oder Schwierigkeiten haben, einen Text richtig zu verstehen.
3.2. Gemeinsamkeiten zwischen Gehörlosen und Hörenden
Bisher wurde viel über die Unterschiede zwischen Gehörlosen und Hörenden geschrieben und gebärdet. Dies hinterlässt ganz den Eindruck, als wenn es sich hierbei um völlig unterschiedliche Wesen handeln würde - so ist es jedoch nicht. Es gibt natürlich Gemeinsamkeiten!
Diese Unterschiede wurden aufgeführt, um zu verdeutlichen, wie es z.B. zu Missverständnissen kommen kann, warum es manchmal schwierig ist sich zu verstehen, warum es Vorurteile auf beiden Seiten gibt. Gründe hierfür liegen zum einen in der geschichtlichen/politischen Entwicklung, in der Gehörlose als behinderte Person oftmals negative Erfahrungen in allen Lebensbereichen, gerade durch Hörende, machen mussten. Daher besteht auch heute noch zum Teil großes Misstrauen gegenüber Hörenden.
Die Gemeinsamkeiten ergeben sich aus den gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Wertvorstellungen, die in dem jeweiligen Land vorherrschen, in dem die Menschen leben.
Jedes Land für sich hat typische Merkmale und Eigenschaften. Es wird geprägt durch die Menschen, die dort aufwachsen oder aus anderen Ländern hinzukommen. Es wird geprägt durch die geschichtliche und politische Entwicklung eines Landes, die geographischen Begebenheiten (Landschaft, Klima, Insel, Festland, etc.), die Kultur, durch Traditionen und Religionen und natürlich auch die Sprachen (Lautsprachen, Gebärdensprachen und Schriftsprachen) usw.
Aufgrund der Kommunikationsbehinderung werden einige Lebensbereiche in vielen Ländern in „hörend“ und „gehörlos“ getrennt. Viele Gehörlosenvereine und Gehörlosenverbände haben eigene Theatervereine, Sportvereine, Veranstaltungen, Informationsabende, Weiterbildungsangebote, verschiedene Freizeitangebote und vieles mehr, die von Gehörlosen für Gehörlose angeboten werden.
In einigen Ländern kann mittlerweile beobachtet werden, dass es zwischen Gehörlosen, Schwerhörigen und Hörenden auch gemeinsame Initiativen gibt. In Deutschland gibt es z.B.:
Stehen die Komplexität einer Hörbehinderung und die damit verbundene Kommunikationsbehinderung nicht im Vordergrund - finden sich Gemeinsamkeiten zwischen Gehörlosen und Hörenden - nur der Mensch an sich zählt, unabhängig vom Hörstatus.
Die erstellten Lernmaterialien sind Bestandteil des Projekts “Being Deaf in an Inclusive Europe”, ein Erasmus+ Programm mit der Referenz-Nr. 2015-1-RO01-KA204-015071. Dieses Projekt wird finanziell durch die Europäische Kommission gefördert.
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